Polen zuhause

Im multikulturellen Wrangelkiez kann man u. a. Netzwerke von Nationalitäten herausschneiden und unter die Lupe nehmen. Meistens ergeben sich keine eindeutigen Aussagen zu den Gruppierungen. Sind alle Italiener in einem bestimmten Café in der Wrangelstraße zu Gast oder gehen alle Spanier ins Restaurant an der Ecke Falckensteinstraße? Netzwerke gibt es trotzdem; ist es nicht so, dass Zugezogene ihresgleichen aufsuchen? Diese „zufällig“ entstandenen Gruppen nehmen aber auch scheinbare Außenseiter auf. Ich bin in eine Polnische verwickelt. In der Schlesischen Straße gibt es seit langem ein Lokal, in dem man Bigos und entsprechendes Bier bestellen kann.

Als Maler auf der Straße und langjähriger Kiezbewohner ergeben sich – zwangsläufig – viele Kontakte zu allen möglichen Menschen. Von polnischen Freunden bin ich mehrmals nach Gdansk eingeladen worden. Wenn ich mich im Gdansker Stadtteil Wrzeszcz aufhalte, denke ich assoziativ an den Wrangelkiez bzw. daran wie Kreuzberg vor der Gentrifizierung aussah. Ich wurde inspiriert, diesen Vergleich durch das Malen auszuforschen.

An meinem ersten Tag beim Malen in Wrzeszcz wurde ich von Andrzej, der dort ein Nachbarschaftsnetzwerk aufbaut und managt, auf der Wajdeloty Straße angesprochen. Er wittert eine internationale Anerkennung seines Stadtviertels. In Wrzeszcz trifft man – was für eine Überraschung – fast nur Polen, aber nicht ganz: Es kommen deutsche Touristen, die mich nach dem Weg zum Geburtshaus von Günter Grass fragen. Übrigens, es kommen Millionen jährlich zu meinen Geburtsort, Newark, New Jersey, wo sich ein internationaler Flughafen befindet.

Vom Bahnhof Wrzeszcz aus laufe ich durch den Kiez zu Freunden, die mich und meine immer mehr werdenden Ölbilder aufgenommen haben. Auf dieser Strecke ist eine Vielfalt der Architektur und des städtischen Raumes zu beobachten. Ich möchte die Wajdeloty Straße mit ihren Geschäften des täglichen Gebrauchs mit der Wrangelstraße vergleichen: Wrzeszcz ist auch von einer Bahnlinie durchschnitten. An der Bäckerei Paradowski komme ich nicht vorbei ohne Kuchen zu kaufen.

Die gedrungene Säule am Eckeingang ist ein markantes architektonisches Element in der Straße. Wie in vielen der hundertjährigen Gebäude wurden die Fensterrahmen und Laibungen weiß gestrichen. So ergibt sich ein starker Kontrast zu den grauen abgenutzten Fassaden. Die Straße mündet in ein kleines Rondell, worauf sich ein Kastanienbaum ausbreitet. Von dort aus folge ich einem schmalen Kanal durch einen kleinen Park, der als Hundeauslauf genutzt wird. Danach überquere ich eine mehrspurige Verbindungsstraße mit Straßenbahnverkehr und gelange zu einem Teil von Wrzeszcz, der früher als „Neuschottland“ bekannt war.

Wenn ich vor Ort und in der Öffentlichkeit male, werden schließlich viele neugierige Menschen herangezogen, und es entwickeln sich oft interessante Gespräche mit Alkoholikern, Großmüttern, die ihre Enkel in Kinderwägen herum kutschieren, mit Professoren, Unternehmern und auch mit so manchen Polen, die inzwischen in den USA und im europäischen Ausland wohnen und zu Besuch sind. Ich unterhalte mich auch mit jungen neu hinzugezogenen Akademikern. Sie alle sind wie die Wrangelkiezbewohner stolz auf ihren Kiez. Da mein polnischer Wortschatz nicht mal eine Pierogi ausfüllen kann, entstehen doch mit Hilfe von Englisch und Deutsch einige informative Gespräche. Sie waren zum Teil erstaunt, dass jemand aus der Ferne die Leidenschaft für ausgerechnet ihren Kiez teilt und Ölbilder von scheinbar zufälligen Gebäuden und Plätzen, einschließlich des Graffitis, malt.

Einige haben jedoch versucht, mich ins Zentrum Danzigs zu lenken, wo sich alle Touristen sammeln (und das aus gutem Grund, denn die bis ins Detail wiederhergestellte Altstadt ist in der Tat sehr schön). Doch mein Hauptinteresse bleibt weiterhin der echte Alltag. Die Menschen leben in abgenutzten und in renovierten Häusern und “Blocks”, lassen sich die Haare beim “fryzjer” schneiden und kaufen leckeren Kuchen beim “cukiernia”, spazieren am Kanal entlang, und lassen ihre Kinder in den Parks spielen.

William Wires, Jan. 2010

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