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Zurück in die Zukunft – Eine Zeitreise zum 1. Mai 2030 und wieder zurück - Der Kreuzberger

Zurück in die Zukunft – Eine Zeitreise zum 1. Mai 2030 und wieder zurück

Es begab sich vor gar nicht allzu langer Zeit, dass ich mich mal wieder auf der Suche nach dem neuesten Trend befand. Als ich die Manteuffelstraße entlang lief, rief eine düstere Stimme aus einer noch düsteren Ecke: »Hey, du!«. Ich drehte mich um und fragte: »Wer, ich?« »Ja, du«, antwortete die düstere Stimme und sprach: »Komm´ mal her. Ich habe etwas interessantes für deinen Bericht« Neugierig ging ich auf die Person zu und wunderte mich, woher er von meiner Suche nach Interessantem wusste.

Als ich vor ihm stand, versuchte ich vergeblich, das durch eine Kapuze fast vollständig verdeckte Gesicht meines Gegenübers zu erkennen. »Was ist denn so interessant?«, fragte ich. »Ich habe hier eine Zeitmaschine, und du darfst sie als Erster testen. Du kannst dir aussuchen, wann und wo du in der Vergangenheit oder in der Zukunft landen willst. Du musst nur einsteigen, die gewünschte Zeit eingeben und dann den roten Knopf dort drücken.« Verwundert schaute ich den mir Unbekannten an. Konnte ich ihm vertrauen? Ach, was soll´s, dachte ich bei mir und setzte mich in die Zeitmaschine, die wie eine überdimensionale Getränkedose aussah. Die mysteriöse Person erklärte mir die Bedienung, um mir kurz darauf mit einem hämischen Grinsen viel Spaß zu wünschen und verschloss die Tür. Ich stellte das Datum auf den 1. Mai 2030, beließ den Ort der Ankunft in der Manteuffelstraße und drückte den Startknopf. Es geschah nichts. Nur ein kurzes Surren, gleich dem eines anfahrenden Fahrstuhls, war zu vernehmen. Dann klickte die Verriegelung und die Tür sprang von alleine auf und gab die Sicht frei.

Neugierig stieg ich 17 Jahre später aus der Zeitmaschine und schaute mich um. Ich stand in einem Zeitungsladen, und der Inhaber sowie die anwesenden Kunden schauten mich verwundert an. Allem Anschein nach stand an der Stelle im Jahr 2013 noch kein Haus, und die Berechnungen der Zeitmaschine haben den städtebaulichen Wandel nicht mit berücksichtigt. Egal, ich verließ den Laden und stand auf der Manteuffelstraße. Ich machte mich auf den Weg in die Oranienstraße. Die Häuser der Umgebung machten den Eindruck, dass sie erst vor einigen Jahren renoviert wurden. Die Straßenbäume standen im saftigen Grün, und insgesamt herrschte eine friedliche Stille. Zu friedlich für den 1. Mai, dachte ich bei mir und ahnte Schlimmes, als ich die Straße hinunter lief. Ich sah, dass sich in die Räumlichkeiten der »Milchbar« ein Sterne-Restaurant eingenistet hatte und dort, wo sich früher die Freiluft Bar befand, ein Appartementwohnhaus errichtet wurde. Mein Blick die Oranienstraße entlang bestätigten meine Befürchtungen, die auf den ersten Metern in der Manteuffelstraße in mir aufkamen und ich blieb erschrocken stehen, als ich das volle Ausmaß erfasste.

Auf den Bürgersteigen standen auf jeder Seite der Straße Verkaufsstände, vor denen sich die feine Gesellschaft tummelte. Bei Hummer, Shrimps und Kaviar prosteten sie sich mit Champagner zu und genossen jede erdenkliche kulinarische Extravaganz, die man sich vorstellen kann. Nirgendwo gab es die Bierverkäufer, die aus gestapelten Kisten heraus verkauften. Nirgends zogen die Rauchschwaden von einem Rostbratwurstgrill oder einer Dönerbude durch die Straße. Einzig und allein das Hasir Restaurant hat sich etabliert und lag somit als letzte Kreuzberger Institution wie ein Fels in der Brandung im elitären Meer. Alle anderen alteingesessenen Geschäfte und Lokale wurden durch die Umstrukturierung des Bezirks vertrieben und durch exklusive Gastronomie und Boutiquen ersetzt. Nirgends waren altbekannte Gesichter zu sehen. Diese hatten sich zu einem Großteil aus Unmut über das Myfest bereits seit 2011 schon nicht mehr auf der O-Straße blicken lassen. Und hier unter der Schickeria waren sie ganz bestimmt nicht mehr anzutreffen. Dort, wo früher das Schild »Core Tex« hing, bei dessen Anblick ein jede/r KreuzbergerIn seit Jahrzehnten selbst im Vollrausch im Vorbeifahren mit der U-Bahn erkannte: »Ich bin zuhause, nächste Station muss ick raus«, war verschwunden und war gegen die Leuchtreklame eines Herrenausstatters ersetzt worden. Über die Köpfe der Menschenmassen hinweg sah ich, welch einen Wandel insbesondere dieser Teil von Kreuzberg seit 2013 durchlebt hatte. Ich lief weiter, und vor dem Eingang des ehemaligen Geschäftshauses am Oranienplatz empfing mich ein Kellner, der jedem, der vorbei lief, ein Glas Champagner anbot. Er gehörte zum Luxuskaufhaus Macy´s, das vor Jahren eingezogen war und an diesem Tag seine Pforten für das zahlungskräftige Publikum geöffnet hatte. Ich lehnte dankend ab und ging weiter. Ein paar Meter weiter, am Oranienplatz, keimte die Hoffnung in mir auf, doch noch auf ein paar revolutionäre Demonstranten zu treffen. Weiträumig hatte die Polizei den Platz abgesperrt. Die Hoffnung versiegte jedoch sogleich wieder, als ich den wahren Grund für die Absperrung erblickte. Wo ich vor ein paar Tagen, im Jahr 2013, im Vorbeigehen das Protestcamp erblickte, stand im Jahr 2030 eine Bühne, die sich über die gesamte Fläche des diesseitigen Platzes erstreckte und auf der sich gerade die Berliner Philharmoniker einrichteten, um ihr 1. Mai-Konzert zu spielen. Vor der Bühne hatten sich hunderte von Zuschauern auf den bereitgestellten Stühlen niedergelassen, um den Klängen zu lauschen. Angewidert verließ ich den Platz und lief über die Seitenstraßen zurück. Die einst hier und dort vorhandenen Baulücken in den Seitenstraßen waren verschwunden. Die Spielplätze sowie die Naherholungsflächen mussten der Neubebauung weichen. Auf meinem Weg durch die Eisenbahnstraße sah ich, dass die alte Markthalle immer noch existierte. Jedoch war auch sie der Umstrukturierung zum Opfer gefallen und beherbergte nun einen Gourmet-Tempel.

Am Lausitzer Platz angekommen, gab mir eine junge Frau einen Zettel in die Hand, der auf eine Veranstaltung im einstigen Lido hinwies. Das ehemalige Kino in der Schlesischen Straße hieß nun »Center Cine« und war wieder dem ursprünglichen Verwendungszweck zugeführt worden. Passend zum Feiertag veranstaltete das Kino einen 1. Mai-Rückblick unter dem Motto »Der 1. Mai vor 50 Jahren«. Dabei, so war auf dem Zettel weiter zu lesen, sollten Aufnahmen der Polizei gezeigt werden, wie sie Demon-stranten durch die Straßen jagten und wie sie selbst gejagt wurden.

Am Lausitzer Platz waren die einzigen Demonstranten zu sehen und auch die Polizei, die sich sonst im Hintergrund hielt, war hier massiv durch Beamte in Schutzanzügen vertreten. Nur von einer angespannten Stimmung war nichts zu spüren. Bei genauerem Betrachten der Leute erkannte ich, dass aus einem Einkaufswagen heraus Pflastersteine an die umher stehenden Personen verteilt wurden. Dem von einem jungen vermummten Mann geschobenen Einkaufswagen folgte ein weiterer, beladen mit Bierflaschen, die ich auf Grund der am Flaschenhals herausragenden Lappen als Molotowcocktails identifizierte. Kurz darauf erfolgte die Eröffnungsmelodie »Deutschland muss sterben« von Slime, und der Demonstrationszug setzte sich in Bewegung. Die Erinnerungen an längst vergangene 1. Mai-Krawalle kamen in mir auf, und ich schloss mich in freudiger Erwartung dem Zug aus offensichtlich gewaltbereiten Staatsfeinden an. Als sich die Demonstranten auf der Kreuzung Skalitzer- Ecke Oranienstraße befanden, fingen sie an, mit Pflastersteinen auf die Polizeibeamten zu werfen und die Lunten der Molotow-Cocktails zu entzünden und die Brandbomben ebenfalls in Richtung der Beamten zu werfen. Nebenbei stand die feine Gesellschaft und klatschte Beifall. Verwundert schaute ich dem Treiben zu. Nach einigen Sekunden realisierte ich, dass die Pflastersteine die Beamten folgenlos trafen und die Brandsätze zwar mit einem lauten Knall explodierten, jedoch kein Feuer entfachten. Ein Mann, der neben mir stand, sagte: »Eine Schande. Die echten Demonstranten sind an den Stadtrand verdrängt worden und liefern sich jetzt die Straßenschlachten mit der Polizei und den Rechten in Marzahn, Hellersdorf und Ahrensfelde und wurden durch diese Komparsen und Schauspieler ersetzt, die hier für die feine Gesellschaft beim Revolutionärem 1. Mai-Musical den Kasper spielen«, und zeigte in Richtung der vorgetäuschten Krawalle und fügte an: »Die einzigen, die den Wandel einigermaßen unbeschadet überstanden haben, sind die Drogenhändler im Görlitzer Park. Die haben es verstanden, sich den verändernden Umständen anzupassen und verkaufen anstatt Marihuana heutzutage Kokain und Heroin.« Während er mir dies erzählte, fuhren im Hintergrund zwei Wasserwerfer auf, und es ertönte die Durchsage: »Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei, dies ist die dritte und letzte Aufforderung. Räumen sie umgehend die Straße, ansonsten werden wir die Wasserwerfer zum Einsatz bringen.« Keiner der Anwesenden machte Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten. Warum auch, es war ja eh nur ein Schauspiel. Und so kam es, wie es kommen musste. Der Höhepunkt gipfelte in einer wilden Wasserschlacht seitens der Polizei, die zusätzlich mit selbstverständlich aus weichem Gummi bestehenden Knüppeln, völlig schmerzfrei für die Revolutionäre, auf diese einschlugen, was von den Demonstranten durch erneute Schaumstoff-Pflasterstein-Würfe beantwortet wurde. Kurz darauf war das Spektakel vorbei, und die Schauspieler erschienen noch einmal, um sich vor dem Applaus der Zuschauer zu verneigen. Gern wäre ich noch länger geblieben und hätte den Erzählungen des Mannes, der während der ganzen Zeit seine Wut über die Zustände äußerte, zugehört. Leider war meine Besuchszeit auf zwei Stunden begrenzt, länger wollte der Typ, der mich in die Zeitkapsel gesteckt hatte, nicht warten.

Nicht fassend, was ich sah, ging ich zurück in den Zeitungsladen, in dem die Zeitmaschine stand, bestieg diese unter den immer noch ungläubigen Blicken der Anwesenden, schloss die Tür, gab die Daten und Koordinaten ein und versetzte mich durch das Drücken des roten Knopfes wieder in die Gegenwart. Dort angekommen, stieg ich aus der Zeitmaschine und war noch fassungslos von dem gerade Gesehenen. Mein Gegenüber fragte: »Und, wie war es?« Entsetzt antwortete ich: »Ich habe Dinge gesehen, die glaubst du nicht. So etwas hat es früher nicht gegeben.«

Geschrieben vom TrendScout