Weihnachtszeit ist Märchenzeit, und 2013 ist Brüder-Grimm-Jahr, weil seit 200 Jahren deren »Kinder- und Hausmärchen« im Handel sind und vor 150 Jahren Jacob Grimm und der viel weniger bekannte Ludwig Emil Grimm, der die Märchensammlung seiner Brüder Jacob und Wilhelm illustriert hat, gestorben sind. Grund genug also, zum Jahresende schnell noch mal die Grimm‘sche Märchensammlung herzusuchen oder eine der kultigen Märchenverfilmungen anzuschauen.
»Kinder brauchen Märchen« – was 171 Jahre später der amerikanische Kinderpsychologe und Psychoanalythiker Bruno Bettelheim ausführlich ein ganzes Buch lang begründet, haben sich die Brüder Grimm wohl auch schon gedacht, als sie sich 1806 an die Fleißarbeit gemacht haben, alle damals bekannten »Kinder- und Hausmärchen« zusammenzutragen. Schließlich haben sie die Erstausgabe der Märchensammlung dem kleinen Sohn ihres Freundes Achim von Armin gewidmet.
In erster Linie war das Ganze allerdings eine Auftragsarbeit mit hohem wissenschaftlichem Anspruch und in der Erstauflage mit entsprechend vielen trockenen sprach- und literaturwissenschaftlichen Ergänzungen. Gleichzeitig war dieser Job den Brüdern Grimm eine Herzensangelegenheit, die überlieferten Erzählungen als »Nationalschatz« für immer zu sichern. Nach sechs Jahren war es soweit. Die erste Ausgabe mit 161 Erzählungen in zwei Bänden kam bei den Lesern allerdings noch nicht so gut an: Kurz vor Beginn der Biedermeierzeit wollten die Menschen nicht so gern wüste Gewaltgeschichten und Abenteuer mit sexuellen Übergriffen (in der Dornröschen-Urfassung vergeht sich zum Beispiel der Prinz erst mal an der schlafenden Prinzessin, bevor er sie wachküsst, und Rapunzel war zum Zeitpunkt ihrer Befreiung längst schwanger, weil sie das Haar öfters mal für vorbeiziehende Prinzen heruntergelassen hatte) hören und lesen.
Da war die von Wilhelm Grimm überarbeitete Neuauflage von 1819 schon eher massentauglich. Wilhelm hatte hier die schlimmsten Grausamkeiten und »moralisch Anstößiges« weggelassen die Handlung allzu langer Geschichten gestrafft und bei diversen Märchen (u.a. Hänsel und Gretel, Schneewittchen) die Schuld am Unglück der Kinder der Stiefmutter gegeben, anstatt der leiblichen Mutter wie im Original. Noch besser ging die abgespeckte Version von 1825 mit 50 handverlesenen Märchen und zusätzlichen romantischen Illustrationen von Emil Ludwig Grimm über den Ladentisch und lag von da an wohl regelmäßig unter dem gerade erst eingeführten Weihnachtsbaum.
Dass die Märchensammlung »Deutscher Kinder- und Hausmärchen« nicht noch viel schmaler geworden ist, ist Jacob Grimm zu verdanken, der kein Problem damit hatte, Märchen aus anderen Ländern »einzubürgern«. Trotz der Liebe zu seinem Heimatland hat er alle Völker und Kulturen geachtet und geschätzt und daraus jeweils das Beste für sich und seine Märchensammlung bezogen. (Auch der gerade erwähnte, scheinbar typisch deutsche Weihnachtsbaum wurde übrigens nicht in Deutschland erfunden, sondern kam auf Umwegen in die deutschen Wohnzimmer. In Elsass stand er schon eher in den Stuben.) Ohnehin ist die Urheberschaft der Volksmärchen oft ganz schwierig zuzuordnen, und einzelne Motive gehen auf mittelalterliche Sagen zurück. Aus Italien stammen jedenfalls so bekannte Märchen wie »Tischleindeckdich«, »Rapunzel«, »Der gestiefelte Kater«, »Aschenputtel«, »Schneewittchen« und »Dornröschen«, wobei die vier Letzteren erst ins Französische übersetzt und in Frankreich weitererzählt wurden. Außerdem kamen Märchen aus »1001 Nacht« durch französische Übersetzer nach Europa, und Rotkäppchen (Le Petit Chaperon rouge) ist von Haus aus Französin.
Von »Frau Holle« lässt sich überhaupt nur sicher sagen, dass es sich um eine europäische Sagengestalt handelt. Auch die Herkunft von Hänsel und Gretel ist nicht zweifelsfrei zu klären, laut einer Anmerkung von Wilhelm Grimm »nach Erzählungen aus Hessen«. Die Geschichte kursierte aber wohl ebenso schon im Elsaß, in Skandinavien und im Balkan. Aus Hessen, wie die Brüder Grimm selbst, kommt zumindest der »Froschkönig« oder »Froschprinz« (der ursprüngliche Titel »König Froschprinz« wurde erst später in »Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich« umgeändert) und aus Norddeutschland das Märchen »Vom Fischer und seiner Frau« nach einer Aufzeichnung des Malers Philipp Otto Runge, von den Brüdern Grimm aus dem Plattdeutschen übersetzt.
Der Spruch »wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute« trifft nicht nur auf die Märchenheldinnen und – helden zu, sondern ganz besonders auf die Grimm‘schen Märchen an sich. Abgesehen davon, dass schon zahllose Theater- und Filmfassungen gibt, lassen sich immer wieder kreative Köpfe anregen, die alten Geschichten weiter zu erzählen.
Aktuell findet sich im Internet die Ankündigung einer Web-Serie »Die Helden der Gebrüder Grimm«. Die erste Folge handelt vom gar nicht so glücklichen Schneewittchen, das mit dem falschen Prinzen verheiratet werden soll. Man darf gespannt sein, ob sich Schneewittchen schon soweit emanzipiert hat, um sich den Plänen zu widersetzen! Umgekehrt widmet Heinz Rölleke sein Buch »Es war einmal. Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte« den Original-Überlieferungen und denjenigen, die sie den Brüdern Grimm zugetragen haben. Und für mehr Sex im Märchen ist der Autor, der unter dem Pseudonym Johann Christoph Spielnagel 1982 einen gegen die »sittliche Reinigung der Märchensammlung von Jacob und Wilhelm Grimm« gerichteten erotischen Märchenband, mutmaßlich mit den »erotischen Urfassungen« der berühmtesten Märchen, mit dem anzüglichen Titel »Zauberflöte und Honigtopf« herausgebracht hat.
Auch Wissenschaftler beschäftigen sich weiterhin mit der Wirkung der Märchen. Gerade erst, im 200. Kinder- und Hausmärchen-Jubiläumsjahr, konnte belegt werden, dass Märchen nicht nur für Kinder gut sind, sondern auch für demenzkranke Senioren: Wegen der positiven Assosiationen, weil Märchen das Leben lang im Langzeitgedächtnis verankert bleiben, und der damit verbundenen angenehmen (Kindheits-)Erinnerungen kommt bei den Kranken Stimmung auf.
Jede Menge Erinnerungen an Jakob und Wilhelm Grimm und ihre Märchen findet man in Berlin, nachdem die beiden damals bereits hocherfolgreichen Gelehrten ihre Heimat in Hessen aus politischen Gründen (beide beteiligten sich am Protest der »Göttinger Sieben«, der schief ging und ihnen ihre Professuren kostete) verlassen mussten und 1841 durch Fürsprache des preußischen Königs nach Berlin berufen wurden. Hier haben sie die wichtigste Zeit ihrer Karriere und die restliche Zeit ihres Lebens verbracht, woran das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität erinnert.
Begraben sind Jacob und Wilhelm Grimm und desse Söhnen Rudolf und Hermann auf dem Alten Sankt Matthäus Kirchhof in Schöneberg. In Berlin-Tiergarten, wo Jacob und Wilhelm Grimm gewohnt haben, gibt es die Brüder-Grimm-Gasse und in Lichtenrade und Kreuzberg jeweils eine Grimmstraße und die neue Bibliothek der Humboldt-Uni heißt Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum.
Nach ihren Märchenfiguren sind sogar 44 Straßen und Wege im Stadtgebiet benannt. Im Volkspark Friedrichshain steht der Märchenbrunnen mit Figuren aus neun Grimm‘schen Märchen, ein weiterer Märchenbrunnen in Neukölln, der Gänselieselbrunnen in Wilmersdorf und der Froschkönigbrunnen in Pankow. Auch Kreuzberg hat seinen Froschkönig oder vielmehr Froschprinzen: Der sitzt im U-Bahnhof Prinzenstraße am Bahnsteig Richtung Uhlandstraße auf einer der Dachstreben.
Geschrieben von Jutta Wunderlich