Eine Gruppe Frauen und Männer, dazwischen auch ein Kind, stehen in gebückter Haltung rund um einen Fahrradständer in der Kreuzbergstraße. Passanten, die an dieser Gruppe vorbeilaufen, versuchen deren Inneres zu erblicken. Manch einer gesellt sich dazu, ein anderer läuft kopfschüttelnd weiter, ein weiterer versucht aus der Ferne zu enträtseln, was denn der Kern des Interesses sein möge.
Heilkundige früherer Zeiten liefen oft nicht weit, um die geeignete Medizin für ein Leiden zu finden. Rund ums Haus, in der Hecke, am Brunnen, am Wegesrand fanden sie eine Vielzahl ihnen bekannter Heilpflanzen. Dieses Vorgehen erscheint uns heutzutage als befremdlich, einfach und naiv. Wir erwarten von unseren Pharmakologen, dass sie im Labor mit chemischen Reagenzien hantieren und nicht wie Wilde in den Büschen herumkriechen. Unsere heutige Medizin ist komplex und hoch spezialisiert – und doch bringen die modernen Leiden sie bisweilen an ihre Grenzen.
Auf der Suche nach Lösungsansätzen blickt man sich um: Was nun? Neue Wege beschreiten? Oft genügt jedoch das Beschreiten ganz gewöhnlicher Wege. Den Gehsteigen zum Beispiel.
Auf den Gehsteigen Kreuzbergs wird kaum einer Heilpflanzen sammeln. Soll er auch nicht. Doch lassen sich direkt vor den Haustüren der Kreuzberger Bürger Heilpflanzen kennenlernen und ihre Heilwirkungen verstehen. Man muss nur lernen, genau hinzuschauen. Doch wo sind sie bloß, diese Heilpflanzen? Wir stehen darauf! Sie sind buchstäblich unter uns, zu finden in Parks, an Baumscheiben oder als vermeintliches Unkraut zwischen Gehwegplatten.
Die Gruppe von Frauen und Männern beginnt vorsichtig zu tippeln, drehen die Schuhsohlen beiseite, um eine solche Heilpflanze zu entdecken. Hier und da erscheint ein kleiner Klecks Grün, mal mit bekannter Form, ein Grashalm, mal völlig unbekannt. Langsam und Pflanze für Pflanze beginnen wir die verschiedenen Vertreter der Trittpflanzengesellschaften kennenzulernen. Es sind Pflanzenspezies, die sich ein sehr besonderes Biotop ausgesucht haben: Sie wachsen dort, wo wir lang laufen, dort, wo wir unsere Füße hinsetzen, sie bevölkern unsere Gehsteige und finden sich in spärlichen, schmalen Ritzen zurecht.
„Wer hat denn schon an einer wiederkehrenden schmerzhaften Blasenentzündung gelitten?“ In der Gruppe meldet sich die eine oder andere Hand. Sollte die Antibiotikatherapie keine dauerhafte Symptomfreiheit gewährleisten, so darf man sich ruhig die Unterstützung von ganz unscheinbaren Helferlein sichern. Gerade Therapeutika für die Niere und Blase finden sich ausreichend auf den Gehsteigen.
Eine davon bildet einen Miniaturteppich aus unzähligen noch kleinen Blättern und wahrscheinlich tausend noch kleineren Blüten: Das Bruchkraut.
Ein Tee aus diesem Kraut mit der lateinischen Bezeichnung Herba Hernariae riecht überraschend aromatisch, lieblich. Die enthaltenen Cumarine riechen und schmecken nicht nur gut, sondern sie entspannen auch schmerzhaft verkrampfte Muskulatur, vor allem im Beckenbereich. Bei einer Blasenentzündung lindert dieses pflanzliche Spasmolytikum die unangenehmen Krämpfe der Blasenmuskulatur. Von den Saponinen des Bruchkrautes weiß man, dass sie einen günstigen Einfluss auf den Blutdruck haben. Unterstützend kann diese Pflanze also in Kräutermischungen bei erhöhten Blutdruckwerten eingesetzt werden. Dies kann auch während einer schulmedizinischen Therapie geschehen, sollte jedoch auf längere Zeit von professioneller Seite begleitet werden.
In einer Stadt wie Berlin ist es fast unmöglich, nicht auf Heilpflanzen zu stehen. Alle stehen wir auf Heilpflanzen. Tagtäglich. Die meisten jedoch nur mit dem Fuß, manche aus gutem Grund nicht nur damit.
Sebastian Vigl ist ein in Kreuzberg praktizierender Heilpraktiker und Pflanzenkundler sowie Mitarbeiter der Zieten Apotheke Berlin im Fachbereich westliche Heilkräuter. Auf seinen Heilpflanzenführungen rund um den Kreuzberg bringt er Interessierten die Heilpflanzen der Stadt nahe. Die Führungen finden an verschiedenen Samstagen im Jahreskreis statt. Teilnahme gegen Spende.
Termine und mehr Informationen zu den Führungen im Netz: www.sebastianvigl.de
Geschrieben von Sebastian Vigl